Schulleiterin und Digital-Expertin Silke Müller warnt davor, Kinder mit künstlichen Intelligenzen allein zu lassen. In ihrem aufrüttelnden Buch analysiert sie, was die KI-Revolution für Bildung und Erziehung bedeutet. Und sie gibt praktischen Rat, wie Eltern ihre Kinder schützen und kompetent begleiten.
Elfjährige, die ihren Avatar um Rat fragen, wenn sie zum ersten Mal verliebt sind. Teenager im Video-Chat mit Pädophilen – durch KI getarnt als Gleichaltrige. Schummeleien mit ChatGPT & Co., die zur Kriminalisierung von Kindern führt. Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, doch kaum jemand hat eine genaue Vorstellung, wie fundamental sie unser Leben verändern wird – und welche Bedrohung gerade für Kinder von ihr ausgeht.
Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und Digital-Beauftragte ihres Landes. Täglich erlebt sie, welchen Gefahren Kinder und Jugendliche durch KI ausgesetzt sind. Für die meisten Eltern, Großeltern und Pädagog*innen hingegen ist künstliche Intelligenz Neuland. Die Gefahren, die von ihr ausgehen, sind den wenigsten in vollem Ausmaß bekannt. Silke Müller hat bereits in ihrem Nummer-1-Bestseller »Wir verlieren unsere Kinder« auf die Gefahren in sozialen Netzwerken hingewiesen. Jetzt widmet sich dem wichtigsten Thema digitaler Bildung: KI. Sie erklärt, was durch die neuesten Entwicklungen auf Eltern und Familien zukommt, und wie wir Kinder und Jugendliche sicher und kompetent daran teilhaben lassen können.
»Mit Social Media kannten sich die meisten Eltern aus. Bei KI fühlen sich Eltern und Großeltern oft abgehängt. Dabei wird sich unsere Welt schon bald komplett verändert haben.« Silke Müller
Die technologische Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Umso wichtiger ist es, informiert und engagiert auf sie zu reagieren – im Interesse der Kinder. Und so klärt dieses wichtige Buch auf über Hintergründe und Zusammenhänge und macht Eltern Mut, ihre Kinder in eine neue Welt zu begleiten.
Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Landes. Sie kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung – auch und vor allem in der digitalen Welt. Sie ist (Stief-)Mutter zweier Töchter und lebt in Hatten im Landkreis Oldenburg. Ihr Buch Wir verlieren unsere Kinder (Droemer 2023) erreichte Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.
In „Wir verlieren unsere Kinder“ warnten Sie vor den Gefahren von TikTok, Snapchat & Co für unsere Kinder. Nun beschäftigen Sie sich mit Künstlicher Intelligenz und fragen „Wer schützt unsere Kinder?“. Wo lauern denn bei KI die Gefahren der KI für unsere Kinder?
Ich beleuchte die komplexen Herausforderungen, die die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) für unsere jüngste Generation aber auch für uns als Gesellschaft im Alltag mit sich bringt.
Mein Anliegen ist es keineswegs, eine Zukunftstechnologie zu dämonisieren, der ich selbst fasziniert gegenüberstehe. Vielmehr bin ich ein absoluter Verfechter dieser innovativen Technologien mit der Überzeugung, dass in ihnen das Potential für eine transformative gesellschaftliche Weiterentwicklung liegt. Doch diese positive Vision kann nur dann Realität werden, wenn wir die inhärenten Risiken, die speziell unsere Kinder betreffen, nicht nur erkennen, sondern auch aktiv adressieren.
Die Fähigkeit der KI, überzeugende Fälschungen zu erzeugen – von Nachrichten über Videos bis hin zu Stimmen – öffnet Türen für eine neue Dimension des Cybermobbings, der Demütigung und der Desinformation. Diese Technologien haben das Potenzial, die Seelen unserer Kinder tiefgreifend zu verletzen, indem sie deren Realitätswahrnehmung verzerren und sie emotionalen Risiken aussetzen, die weit über das hinausgehen, was wir bisher kannten. Die Herausforderung liegt nicht nur in der Technologie selbst, sondern auch in unserem scheinbar kollektiven Unvermögen, uns adäquat mit ihr auseinanderzusetzen. Ein Mangel an Verständnis und Interesse, gepaart mit der langsamen Anpassung unseres Bildungssystems, das einer charmanten Ruinenverwaltung gleicht, birgt die Gefahr, dass wir unsere Kinder in einer digitalen Welt allein lassen, in der sie ungeschützt Manipulation und unreflektiertem Konsum ausgesetzt sind.
Es ist essenziell, dass wir unseren Kindern nicht nur beibringen, wie sie mit KI sicher umgehen können, sondern auch, wie sie sie kritisch hinterfragen und zu ihrem Vorteil nutzen können. Dies erfordert eine grundlegende Überarbeitung unserer Bildungsansätze, um sicherzustellen, dass kritisches Denken und Medienkompetenz zentrale Pfeiler des Lernens in einer zunehmend digitalisierten Welt werden.
Wie beeinflusst KI die Beziehung zwischen Kindern, Familie und Bildungseinrichtungen?
KI hält uns irgendwie einen Spiegel vor und erinnert uns eindringlich daran, was im Kern menschlicher Beziehungen unersetzlich ist: die echte, lebendige Verbindung, die nur zwischen Menschen, die atmen, denken und fühlen, entstehen kann. Jedes Gespräch zwischen Eltern und Kind, Lehrkraft und Schüler ist nicht durch KI zu ersetzen. Diese Verbindung, die in den unzähligen, oft unscheinbaren Momenten des direkten Austauschs, der Berührung und des Blickkontakts lebt, wird durch die digitale Welt herausgefordert, jedoch nie vollständig ersetzt werden können. So glaube und – ehrlich gesagt – hoffe ich.
Doch die Wirklichkeit, die ich in den Fluren der Schulen und den Geschichten der Familien sehe, ist komplexer. KI beginnt, die Art und Weise, wie wir kommunizieren und interagieren, subtil zu verändern. Entschuldigungsschreiben und Anträge, die mit einer KI-Unterstützung formuliert wurden, veranschaulichen, wie die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Maschinellen verschwimmen. Eltern, die Klassenarbeiten durch KI prüfen lassen, um die Korrektheit der Lehrkräfte in Frage zu stellen, zeigen, wie Technologie in die intimsten Bereiche unseres Bildungswesens eindringt.
Ich glaube, wir stehen an einem Scheideweg: KI kann einerseits dazu beitragen, dass wir die Bedeutung menschlicher Bindungen neu bewerten und endlich wieder stärken. Sie kann uns dazu anregen, zurückzukehren zu einer Kultur, in der Beziehungsarbeit und direkter Austausch wieder im Mittelpunkt stehen. Andererseits birgt KI eben auch das Risiko in sich, dass wir uns weiter voneinander entfernen, dass Missverständnisse und Konflikte verschärft werden, Differenzen verstärkt werden, man sich sogar weniger zuhört. Es geht vielleicht schon bald nicht mehr darum, sich ernsthaft zuzuhören, sondern sich Gegenargumente schlicht durch ChatGPT vorformulieren zu lassen, ohne dabei selbst nachzudenken.
Wo sehen Sie die Chancen, die KI bietet? Für Kinder, Eltern und Schule?
Die Chancen, die Künstliche Intelligenz uns bietet, sind in der Tat enorm und berühren nahezu alle Aspekte des Bildungswesens sowie des täglichen Lebens von Schülern, Eltern und Lehrkräften. Ein Paradebeispiel dafür ist der „Translate-Button“ auf der Homepage unserer Schule, der es Eltern, die nicht deutschsprachig sind, ermöglicht, sämtliche Informationen und Inhalte unserer Website in ihre eigene Sprache zu übersetzen. Diese Funktion fördert die Inklusion und den Zugang zu Informationen auf eine Weise, die vor nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen wäre.
KI unterstützt mich persönlich bei der Erstellung komplexer Elternbriefe, indem sie hilft, diese in einfacher Sprache zusammenzufassen. So können wir sicherstellen, dass alle Eltern, unabhängig von ihrem sprachlichen Hintergrund, wichtige Informationen verstehen. Die Kennzeichnung, dass ein Text mithilfe von KI bearbeitet oder übersetzt wurde, gewährleistet dabei Transparenz und Vertrauen.
KI im Klassenzimmer ermöglicht uns, Lernprozesse stärker zu individualisieren, die Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler präzise zu analysieren und darauf basierend maßgeschneidertes Förder- und Fordermaterial zu entwickeln. Dies bedeutet, dass wir in der Lage sind, sowohl Schülerinnen und Schüler, die besondere Unterstützung benötigen, als auch besonders begabte Kinder effektiver zu fördern. Die Potenziale der KI in der Bildung sind gewaltig, sei es durch die Verbesserung der Inklusion, durch gezielte Fördermaßnahmen oder durch die Bereitstellung von individualisiertem Lernmaterial, das sich den Bedürfnissen jedes einzelnen Schülers anpasst.